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Inhalt: Kurzgeschichten

Sitzender Troll

Der Tigerkater

Lisbeth erwachte mitten in der Nacht mit einem Angstschrei aus einem schweren Alptraum.
Schweißgebadet fuhr sie in ihrem Bett hoch und stierte und lauschte in die Dunkelheit hinein.
Doch nichts war zu sehen oder zu hören. So saß sie einige Zeit, doch im Haus blieb alles ruhig.
Niemand schien sie gehört zu haben, selbst ihr Vater nicht, der sie immer ausschalt,
wenn sie wieder etwas geträumt hatte und davon erzählte. Aber diesmal konnte sie sich an nichts mehr erinnern,
nur dass es etwas sehr schreckliches war und es ihr eine Riesenangst eingejagt hatte.
Mit dem Jungen und Freund Jakob, der weiter oben in der Straße wohnte, vereinbarte sie schon vor längerem für solche Fälle,
sich an ihrem Lieblingsort am Fluss zu treffen. So stand sie langsam auf, entzündete aber keine Kerze,
sondern zog sich im Dunkeln an und schlich sich vorsichtig aus dem Haus.

An Jakobs Haus angekommen, warf sie, wie es ihr verabredetes Zeichen war, einige Steinchen an seinen Fensterladen.
Doch nichts rührte sich. Sie versuchte es noch einmal, aber Jakob zeigte sich nicht.
Einen Moment lang stand sie unschlüssig, doch die innere Unruhe trieb sie fort, ihrem Schutzort zu.
So schlich sie an der Stadtmauer entlang, bis sie zum östlichen Stadttor kam, durch das sie zum Fluss gelangen konnte.
Das Tor war verschlossen und als sie sich vorsichtig näherte, fand sie den Wächter schlafend auf einem Schemel
in seinem Schildhäuschen sitzen. Für sie war das gut, aber eigentlich sollte der Wächter ja darauf achten,
dass sich keine Fremden in die Stadt schlichen, denn diese stand unter Quarantäne, weil der schwarze Tod herrschte.

Mit zitternden Händen nahm sie dem Wächter den Schlüsselbund vom Gürtel, schloss die kleine Pforte neben dem Tor auf
und rannte los. Völlig außer Atem erreichte sie die Halbinsel, die durch eine scharfe Biegung des Flusses entstanden war
und auf der zahlreiche Büsche, Hecken und Bäume standen. Erschöpft lehnte sie sich an einen Baum
und blickte zurück auf die Stadt. Plötzlich sah sie dort ein Licht aufflackern, dann noch eins und immer mehr.
Die Lichter wurden schnell größer und Lisbeth brauchte eine Weile um zu verstehen. Ihre Stadt brannte lichterloh.

Schreckensbleich starrte sie auf die lodernden Flammen. Plötzlich hörte sie ein Geräusch in den Büschen,
das schnell auf sie zukam. Und dann gewahrte sie einen Mönch, der an ihr vorbei zum Ufer lief und ein Ruderboot losband.
Lisbeth schrie auf: 'Hilfe! So helft doch! Die Stadt brennt!' Der Mönch fuhr herum und Lisbeth sah im Flammenschein,
wie er sie mit einem satanischen Blick anstarrte. Dann hob er einen Stein auf und kam auf sie zu.
Voller Panik rannte sie in die Büsche, doch hörte sie, wie der Mönch schnell näher kam. In ihrer Todesangst kam ihr eine Idee.
Sie schlug einen Haken und rannte aufs Ufer zu. Das Boot, sie musste es erreichen.
Hinter sich hörte sie einen schweren Schlag und einen lauten Fluch. Der Mönch war über eine Wurzel gestolpert.
Endlich erreichte sie das Boot, das sich schon etwas vom Ufer abgesetzt hatte. Sie watete das kurze Stück durchs Wasser
und ließ sich hinein fallen. Schnell nahm sie ein Ruder und stieß es gegen den Grund, bis die Strömung das Boot erfasste
und sie flussabwärts trieb. Völlig entkräftet sackte Lisbeth zusammen und fiel in Ohnmacht.

Durch einen kräftigen Ruck erwachte Lisbeth und schreckte hoch. Benommen schaute sie sich um,
doch weit und breit war niemand zu sehen. Es war inzwischen Morgen geworden und Lisbeth stellte fest,
dass sie mit ihrem Boot an einem Ufer gestrandet war. Dieses war an der Stelle sehr flach, dann folgten viele Felsen
und noch weiter hinten türmten sich die Wälder auf. Vorsichtig kletterte sie an Land, ging einige Meter
und setzte sich dann auf einen großen Stein, da ihr noch schwindlig war.
Plötzlich hörte sie eine Stimme rufen: 'Hallo kleines Mädchen!' Sie schaute um sich, doch konnte niemanden erkennen.
Da rief es wieder: 'Hallo kleines Mädchen, wie geht es Dir?' Sie schüttelte ihren Kopf, um klarer sehen zu können,
aber wieder zeigte sich niemand. Da antwortete sie: 'Hallo, wer ist denn da?'
Statt einer Antwort, bewegte sich plötzlich der Stein unter ihr und sie purzelte zu Boden.
Als sie aufschaute, wurden ihre Augen groß vor Schreck. 'Hallo, hier bin ich, mein Name ist Marlon. Ich bin ein Troll.
Du brauchst keine Angst zu haben, ich tue Dir nichts. Und wer bist Du?' Lisbeth entspannte sich wieder,
setzte sich auf und war nun auf gleicher Höhe wie der Troll. 'Ich bin Lisbeth und komme aus der großen Stadt am Fluss.
Du bist aber klein!' 'Ja, Trolle sind so klein, aber innen drin haben sie eine Riesenkraft.
Erzähl, was machst Du denn hier alleine in einem Boot?' Da fing Lisbeth heftig an zu weinen
und erzählte dem Troll ihre Geschichte, von ihrem Alptraum, von Jakob, vom Verlassen der Stadt, von dem Mönch,
der sie umbringen wollte und von ihrer Flucht im Boot. Da trat Marlon näher, legte ihr die Hand an die Wange,
worauf Lisbeth aufhörte zu weinen, ganz, ganz ruhig wurde und sich so wohl fühlte, wie an der Hand ihres Freundes.
Der Troll dachte einen Moment lang nach und sagte dann: 'Das müssen wir ergründen, da stimmt etwas nicht!
Wir werden die Stadt aufsuchen.'

Er nahm sie an die Hand und im nächsten Augenblick fanden sie sich auf Lisbeths Lieblingsplatz auf der Halbinsel wieder.
Beide schauten sich um und plötzlich rief Lisbeth: 'Da schau, unter dem Busch, das ist doch mein Freund Jakob!'
Sie eilten hin und Marlon strich dem Jungen über den Kopf, worauf dieser erwachte.
'Lisbeth, du lebst! Welch eine Freude! Wo warst Du? Ich hab nach Dir gesucht!' Und sie erzählte ihm ihre Geschichte
und verlangte auch seine zu hören. Jakob berichtete, dass er von unzähligen Schreien erwachte,
das Haus seines Vaters leer vorfand und auf die Straße trat, wo schon ringsherum alles brannte.
Da eilte er zu Lisbeths Haus, das aber schon in sich zusammen gefallen war. Die Stadt war eine einzige Flammenhölle
und da kam ihm plötzlich der Gedanke, dass nur Wasser ihn retten könne. Er lief zum nächsten Brunnen
und kletterte am Seil in die Tiefe, bis nur noch sein Kopf aus dem Wasser ragte. So hatte er das Inferno überstanden
und begab sich danach zu ihrem gemeinsamen Lieblingsort, in der Hoffnung sie hier zu treffen,
worauf er vor Schock und Erschöpfung eingeschlafen sei.
Lisbeth und Jakob fielen sich in die Arme, trösteten sich lange gegenseitig und freuten sich über ihr Wiedersehen.
Inzwischen hatte sich der Troll umgeschaut und kam mit einer Holzkette, an der ein Kreuz hing, wieder zu den Beiden.
'Kennt ihr das?' fragte er. Jakob nahm es in die Hand und sagte: 'Ja, das tragen die Mönche der Abteikirche immer mit sich.
Die Abtei befindet sich auf der Anhöhe am anderen Ufer des Flusses.'
In den Augen des Trolls blitzte es auf und er sagte: 'Da gehen wir jetzt mal hin!'

Marlon nahm die beiden Kinder an die Hand und im nächsten Moment fanden sie sich am Fuße der Anhöhe wieder.
Diese war dicht mit Wald bestanden und am höchsten Punkt ragte die Turmspitze der Abtei heraus.
Sie folgten dem kleinen Pfad den Hang hinauf und standen bald vor dem Tor der Kirche. Es war verschlossen und nirgends
war jemand zu sehen noch zu hören. Der Troll berührte das Tor und es gab federleicht nach.
Die drei traten ein und schauten sich um. Es herrschte eine gespenstische Stille, die nur vom Flackern der riesigen Kerzen
an den Säulen unterbrochen wurde. Sie schritten zum Altar und dahinter gewahrten sie den Abt,
der durch sie hindurch zu schauen schien. Marlon sprach ihn an, sagte aber nur ein Wort: 'Gestehe!!!'
Da fuhr der Abt aus seinem Sitz hoch, spie aus und schrie aus Leibeskräften: 'Verschwinde Du Wicht!'
Der Troll blieb gelassen, schaute nur schnell auf zum riesigen Bronzekreuz, dass von der Kuppel herabhing
und in seinen Augen blitzte es ganz kurz auf. Daraufhin löste sich die gewaltige Kette des Kreuzes,
dieses stürzte herab, krachte ohrenbetäubend auf den Altar und spaltete ihn in zwei Teile.
Der Abt machte einen Satz rückwärts, schreckensbleich. 'REDE!' befahl der Troll.
'Du Ausgeburt der Hölle! Geh zu Deinem Satan zurück, wo Du hingehörst!' schrie der Abt, wie toll.
Da öffnete sich plötzlich hinter dem Abt der Tabernakel und eine Anakonda kroch hervor und umschlang den Leib des Abtes.
Dieser schrie um sein Leben, schlug wild um sich, doch der Würgegriff wurde immer enger.
Und der Troll fragte erneut: 'Redest Du jetzt?' 'Ja, ich gestehe! Ich war es! Ich hatte panische Angst vor der Pest
und wollte mich und meine Abtei schützen. Da gab ich meinen Mönchen den Befehl das Feuer in der Stadt zu legen.
Ich flehe um Gnade! Ich bereue!' 'Ja, du wirst Gelegenheit zum Bereuen bekommen!'
Der Troll schnippte mit dem Finger und die Schlange verschwand. Der Abt fiel auf den Boden und keuchte schwer.
'Was hast Du vor?' Der Troll schnippte erneut mit dem Finger und eine Nebelwand tat sich auf, vom Boden bis zur Kuppel.
Dann erschienen dort Bilder der brennenden Stadt und der Troll sagte:
'Das ist das Tor. Dort wirst Du nun hineingehen und brennen wie all diejenigen, denen Du das angetan hast!'
Der Abt winselte um Gnade, doch der Troll streckte seinen Arm aus und es entstand ein Sog,
der den Abt in der brennenden Nebelwand verschwinden ließ.
Nach einer Weile schnippte Marlon wieder mit den Fingern und der Nebel löste sich auf. Plötzlich rief Lisbeth: 'Schaut dort!'
Und sie sahen auf dem Boden ein zitterndes Fellknäuel. Es war ein Tigerkater.

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